Rundbrief 2018
30. Dezember 2018Rundbrief 2019
18. November 2019Armenien nach der „Samtenen Revolution“
Nach der Abdankung von Sersch Sargsjan am 23. April 2018 ging eine lange Ära zu Ende, die für Korruption und Armut in Armenien sorgte. Nach zehn Jahren als Staatspräsident ließ er sich nach einer Verfassungsänderung erst eine Woche vor dem Rücktritt zum Regierungschef wählen, die Ergebnisse dabei waren sehr offensichtlich gefälscht.
Die bereits seit Anfang April 2018 stattfindenden friedlichen Straßenproteste breiteten sich danach zu einem Generalstreik aus und zwangen den Machthaber zum Rücktritt. Angeführt wurde die Oppositionsbewegung vom Journalisten und Dichter Nikol Paschinjan, der zuvor auch schon mal inhaftiert war und nun das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. Sein erklärtes Ziel war es, gegen die korrupten Strukturen vorzugehen, transparente Politik für das Volk zu machen, die alten Oligarchen zu entmachten und die Wirtschaft neu anzukurbeln.
Um auch im Parlament den Einfluss der früher allmächtigen Partei der Republikaner zu brechen, erklärte er im Oktober seinen Rücktritt und ließ im Dezember in freien und demokratischen Wahlen ein neues Parlament wählen. Für seine Bewegung „Mein Schritt“ gab es eine überdeutliche Mehrheit mit gut 70% der Stimmen, der Umbruch konnte noch energischer angegangen werden. In den Behörden wurde eine große Anzahl von ehemaligen Beamten gegen junge Personen aus NGOs und der Protestbewegung ausgetauscht.
Die Erwartungen auf einen tiefgreifenden Wandel waren und sind groß, die versprochenen Reformen sollten zeitnah und sichtbar umgesetzt werden, sonst drohten Unzufriedenheit oder sogar neue Unruhen. Paschinjan will kein „Messias“ sein, wie ihn vielleicht manche betrachten, er setzt aber deutliche Signale der Veränderung. So ließ er z.B. auch einen nahen Verwandten verhaften, der der Korruption verdächtigt wurde. Er legte sich keine Staatskarosse zu, fährt vielmehr täglich mit dem Bus zur Arbeit. Teile des früher gesperrten großen Parks um das Parlamentsgebäude machte er der Öffentlichkeit zugänglich. Seine Währung sind Transparenz und Integrität.
Die Anzahl der Ministerien verringerte er von 17 auf 12, was zu Kosteneinsparung führte, allerdings aber auch Tausende Mitarbeiter arbeitslos werden ließ. Die ehemaligen Unterstützer und Nutznießer des alten Regimes sind natürlich ein Problem in der neuen Gesellschaftsentwicklung, sie müssen natürlich irgendwie in den demokratischen Wandel integriert werden.
Eine Herkules-Aufgabe ist sicherlich der Clinch mit der alten Oligarchenriege, die eng mit der politischen Nomenklatura verquickt war. Durch die Bekämpfung der Korruption und der Schattenwirtschaft flossen bereits bis Ende des Jahres 2018 mehr als 41 Millionen Dollar in die Staatskasse. Die britische Wochenzeitung „The Economist“ zeichnete Armenien sogar als „Country of the Year 2018“. Bei seinem letzten Besuch im November 2019 konnte sich unser Vorstand selbst von deutlich sichtbaren Erfolgen überzeugen: Der jahrelang sträflich vernachlässigte Straßenbau zeigt sich in einem ganz neuen Licht, sprich – neue, breite Straßen rund um Vanadzor. Das bislang eigentlich vorgesehene Geld ist wohl in dunklen Kanälen versickert, nun fließt es auch dorthin, wo es vorgesehen war.
Ganz verscherzen darf es sich Paschinjan allerdings mit den Oligarchen und Wirtschaftsbossen nicht, sie sollen ebenfalls an der neuen Politik beteiligt werden. Auch gegenüber Russland muss er vorsichtig agieren, da Armenien durch seine geographische und geopolitische Lage leicht erpressbar ist. Es bezieht Erdgas aus Russland, mehrere Wasser- und Wärmekraftwerke, ein Mobilfunkanbieter und ein großer Versicherer gehören russischen Staatskonzernen, und es ist Teil der von Russland dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion. Bei keinem anderen Änderungsprozess im postsowjetischen Raum hat Russland so wohlwollend zugeschaut, wohl weil keine „Ukrainisierung“ Armeniens drohte – also eine versuchte enge Anlehnung an die EU.
Auf dem Weg zu einer modernen Zivilgesellschaft hat Armenien die ersten Schritte getan, auch wenn eine gewisse Ernüchterung eigetreten ist. Es sei nicht alles so schnell wie erhofft umgesetzt, manche Möglichkeiten seien verpasst worden, meinen Kritiker. So sei keine Verfassungsreform angegangen worden, die von Paschinjan neuerdings geplante Steuerreform sei eine Bevorzugung der Reichen, da die bisher gestaffelte Einkommensteuer (23% – 36% je nach Einkommen) in eine Einheitssteuer von 23% für alle abgeändert werden soll. Ein weiterer Vorwurf ist, dass die neue Regierung gegen Oligarchen unterschiedlich streng vorgeht, z. B. gegen Samvel Aleksanjan, dessen Verfahren wegen Steuerhinterziehung einen Tag, nachdem er 35 000 Dollar an die wohltätige Stiftung „Stadt des Lächelns“ von Paschinjans Frau gestiftet hatte, eingestellt wurde.
Wie man sieht, ist der Weg Armeneins nach der „Samtenen Revolution“ zu einer bürgernahen Reformpolitik mit noch vielen Steinen bepflastert, auch wenn die ersten Erfolge schon erkennbar sind.Tihomir Glowatzky
Weitere Informationen:
Armeniens Stunde Null. Innenansichten der „Samtenen Revolution“
Feature von Daniel Guthmann, SWR 2, 1.5.2019
https://www.swr.de/swr2/doku-und-feature/Feature-Armeniens-Stunde-Null,aexavarticle-swr-62018.html
Oliver Bilger: Armenien – ein Land lockt mit Heimatgefühlen
Frankfurter Rundschau, 8.1.2020
https://www.fr.de/politik/armenien-land-lockt-heimatgefuehlen-13424317.html
Armeniens Stunde Null. Innenansichten der „Samtenen Revolution“
Feature von Daniel Guthmann, SWR 2, 1.5.2019
https://www.swr.de/swr2/doku-und-feature/Feature-Armeniens-Stunde-Null,aexavarticle-swr-62018.html
Oliver Bilger: Armenien – ein Land lockt mit Heimatgefühlen
Frankfurter Rundschau, 8.1.2020
https://www.fr.de/politik/armenien-land-lockt-heimatgefuehlen-13424317.html